LocalZero:Warming Up 2023

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💥Dies ist ein Protokoll einer Session vom Bundestreffen 2023💥

Sprecher:

Martin Oetting, vollehalle & Vorstand von GermanZero

Über den Tellerrand – und wenn wir die Welt verändern? (Zusammenfassung)

Ich gehe davon aus, dass die meisten von Euch mit “James Bond” vertraut sind. Oder mit “Mission Impossible”. Da geht’s ja meistens darum, dass eine kleine Gruppe oder ein einzelner eine Bande Terroristen ausschaltet, die gerade emsig damit beschäftigt ist, unsere “aktuelle Weltordnung” zu zerstören. Mittlerweile frage ich mich immer häufiger: Was ist mit aktueller Weltordnung eigentlich gemeint? Das wird in den Filmen ja selten erklärt. Ich habe mir überlegt, dass man dafür vielleicht drei zentrale Dinge nennen könnte – drei “Bullet Points” –, die eine aktuelle Weltordnung im Sinne dieser Filme beschreiben. Das ist erst einmal der globale Kapitalismus. Dann, zweitens, die repräsentative Demokratie. Und drittens: Alles findet unter der Führung der USA statt. Oder… China, tja …? Na, irgendwie so. Stellt sich die Frage: Ist das globale Weltordnung? Oder mittlerweile nicht eher globale Weltunordnung? Ich frage mich jedenfalls immer häufiger, wenn ich so einen Film sehe: Mit wem identifiziere ich mich eigentlich? Die globale Ordnung, die wir gerade haben – wollen wir die wirklich retten? Ich habe am letzten Wochenende gemerkt, dass ich einem verbissenen Tom Cruise, der ohne groß nachzufragen für den Erhalt der aktuellen Weltordnung kämpft, nicht mehr so richtig folgen kann. Nun fällt es zugleich schwer, sich mit den Terroristen zu solidarisieren, weil die meist lächelnd in Kauf nehmen, dass zwei Milliarden Menschen sterben oder ähnliche Dinge … In deren Lager mag man auch nicht gerne sein. Also irgendwie passe ich da nicht mehr richtig rein. Diese Geschichten funktionieren nicht mehr für mich. Ich gucke zu und bleibe unbeteiligt.


Geschichten sind die Instrumente, mit denen wir unsere Sicht auf die Welt konstruieren – eigentlich ständig. Wir haben HeldInnen und Bösewichte, das sorgt für Orientierung. Nehmen wir mal die Geschichte “Die USA sind die führende Nation der freien Welt.” Die kann man auf eine bestimmte Weise erzählen. Man kann sagen: “Arme unterdrückte Menschen fliehen vor fiesen Adligen oder vor Hungersnöten in Europa und finden Freiheit und Selbstbestimmung in einem neuen Land. Sie erschaffen dort eine die Welt inspirierende Demokratie und wachsen über sich hinaus in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur. Sie werden zur entscheidenden Macht, die die Welt vor der Nazi-Bedrohung rettet. Danach helfen sie, eine friedliche Weltordnung zu schaffen und zu erhalten.” Mit dieser Form der Geschichte bin ich aufgewachsen – geboren in Braunschweig im Jahr 1972. Das war die Realität, mit der ich den Großteil meines Lebens verbracht habe. Man könnte aber auch eine ganz andere Version der Geschichte erzählen. “Europäer fallen zu Hunderttausenden auf einem fremden Kontinent ein und bringen ihn in ihre Gewalt. Sie dezimieren die lokale Bevölkerung und importieren zusätzlich auf brutalste Weise Heerscharen von Menschen aus Afrika, die sie zu SklavInnen machen und zwingen, die Drecksarbeit zu tun. Sie entwickeln ein brutales Wirtschaftsmodell, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Und ihre Demokratie gestalten sie so, dass die Wirtschaftselite des Landes sie dominiert. In den zweiten Weltkrieg ziehen sie eher widerwillig, und danach führen sie überall auf der Welt Kriege, um ihre Wirtschaftsordnung durchzusetzen. Das artet so aus, dass dieses Wirtschaftssystem heute ihre eigene Demokratie zerfrisst.”


Und das gilt für alle unsere Geschichten. Die Geschichten, die unsere Sicht auf die Welt prägen, kann man auf unterschiedlichste Weise erzählen:

“Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes ermöglicht uns Wohlstand und stellt die Welt besser.” Oder: “Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes zerstört unseren Planeten und macht die Welt täglich ungerechter.”

“Der Individualismus gibt jedem Menschen die Freiheit, des eigenen Glückes Schmied zu sein.” Oder: “Der Individualismus raubt den Menschen die Fähigkeit, die gemeinsamen Lösungen zu finden, die ein Planet mit acht Milliarden Menschen so dringend braucht.”

“Die repräsentative Demokratie ist die beste Regierungsform, die wir je hatten.” Oder: “Die repräsentative Demokratie ist mit dem Kapitalismus überfordert und wird heute von ihm aufgefressen.”

Damit stellt sich die entscheidende Frage: Was ist denn die Wahrheit? Tja, Wahrheit haben wir eigentlich keine. Das weiß auch jede/r von Euch, denn das klappt ja nicht mal zwischenmenschlich. Wenn drei Personen vor zwei Jahren gemeinsam etwas erlebt haben und heute einem vierten erzählen wollen, was damals passiert ist, hören wir drei verschiedene Geschichten. Wie soll das also für weltbewegende epochale Erzählungen funktionieren?


Wir haben allerdings ein System, das sich um Wahrheit bemüht. Damit haben sich die Menschen jahrtausendelang enorme Mühe gegeben. Dieses System heißt Wissenschaft. WissenschaftlerInnen sind auch nur Menschen, die Fehler machen und Streit haben. Aber es gibt Bereiche, in denen sie so nahe an der Wahrheit dran sind, wie man es nur sein kann. Zu ihnen gehört die Klimaforschung.


Das bringt mich zum ersten Punkt, der mir heute Abend sehr am Herzen liegt: Mit Eurem Engagement für das Klima beweist Ihr, dass Ihr Euch etwas traut, was vielen Menschen nicht gelingt. Vorbei an unpräzisen Geschichten, vorbei an vereinfachenden Geschichten traut Ihr Euch, eine so unumstößliche wie erschütternde Wahrheit anzuerkennen: Die Menschheit ist derzeit mit rasender Geschwindigkeit damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben hier auf der Erde unmöglich zu machen. Ihr würdet hier nicht sitzen, wenn Ihr das nicht wüsstet. Und der Mut, diese Wahrheit anzuerkennen und sich ihr täglich zu stellen, verdient enorme Anerkenung. Denn warum stellen sich so viele Menschen dem Klimaschutz in den Weg? Weil ihnen genau dieser Mut fehlt. AfD wählen, Klimschützer wie Euch auf der Straße attackieren, sich ein noch größeres Verbrennungsauto kaufen kann man nur, wenn man Angst vor der Wahrheit hat und sich nicht traut, sie in das eigene Leben zu lassen.


Aber zurück zu den Geschichten. Welche Geschichten stellen sich Euch in den Weg? Unzählige. Und sie kommen daher in Sätzen, die Ihr alle immer wieder hört:

“Das ist so leider nicht darstellbar.”

“Dafür fehlen uns schlicht die Mittel.”

“Also, das ist jetzt aber wirklich deutlich überambitioniert.”

Diese Sätze funktionieren alle nur im Kontext der aktuell unsere Welt prägenden Geschichten. Stellen wir diese Sätze also in den Kontext einer anderen Geschichte, einer, die vielleicht besser passt. Und sehen wir, was dann passiert. Ich habe es eben gesagt: Die Menschheit ist hektisch damit beschäftigt, sich selbst das Überleben auf diesem Planeten unmöglich zu machen. Welche Geschichte passt dazu?

Titanic.

Wir stehen an Bord und erkennen eine empirische Wahrheit: Dort ist ein Eisberg. Vielleicht sind wir schon näher dran – es knirscht bereits, er reißt die ersten Löcher in den Schiffsrumpf. Was machen wir? Wir rasen, rennen, eilen zum Käpt’n auf die Brücke und brüllen ihn an: “Reißen Sie das Steuer herum! Eisberg! Los, sofort!” Der Käpt’n dreht sich seelenruhig zu Euch um und sagt:

“Tut mir leid. Das ist leider so nicht darstellbar.”

“Also bitte, das ist jetzt aber wirklich deutlich überambitioniert.”

Klingt absurd, aber so ist heute unsere Welt. Das ist nicht allein ein Vorwurf an die Politik. Die Politik agiert so, weil auch viele Teile der Bevölkerung so denken. Weil viele Medien so klingen. Wenn Euch also deswegen hier und da der Mut verlässt, dann denkt immer daran: Die meisten Barrieren sind aus Geschichten gespeist – nicht aus unumstößlicher Wahrheit.


Dass viele solche Widerstände nicht real sind, hat mir vor einigen Jahren ein sehr kluger Politikökonom gesagt. Er sprach über die Wirtschaft; man könnte seine Worte aber genauso auf Politik, Verwaltung und Kultur anwenden: “The economy is man-made. We can make it, unmake it, make it again. But the planet is not man-made. If we destroy it, we’re not going to have another one.” (Die Wirtschaft ist menschengemacht, wir können sie gestalten, auseinander nehmen und neu erschaffen. Aber der Planet ist nicht menschengemacht. Wenn wir ihn zerstören, haben wir keinen zweiten.)


Die meisten Systeme – die Zwangsjacken, die wir uns anlegen – haben wir uns nur ausgedacht. Und wir können sie ändern. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Ich habe zehn Jahre lang mit anderen ein Startup aufgebaut. Einige der Vorgaben und Regelwerke, die für die Arbeit der MitarbeiterInnen wichtig waren, habe ich mir ausgedacht. Ich habe Powerpoints vollgeschrieben oder irgendwelche anderen Dokumente, habe das einigen Leuten erklärt, habe das immer wieder durchgesetzt. Und irgendwann – nach zehn Jahren – saß ich in internen Lehrgängen hinten im Raum und habe zugesehen, wie sich die Teams das gegenseitig beigebracht haben. Aus meinen ausgedachten Dingen waren Wahrheiten geworden. Gesetze in dieser kleinen Welt. Und ich saß hinten im Raum und dachte heimlich: Naja, ich hab’s mir halt ausgedacht. Vielleicht habe ich ja falsch gelegen?


Viele Menschen, die Probleme verteidigen, anstatt Lösungen zu suchen, sehen das nicht. Sie verstehen nicht den Unterschied zwischen dem, was veränderbar und fiktiv ist und dem, was es nicht ist. Könnten alle Menschen diese Unterscheidung treffen und hätten alle Menschen Euren Mut zur Wahrheit, dann hätten wir längst in Deutschland einen Wettlauf um den schnellsten, besten, ambitioniertesten Klimaschutz. Und wir hätten einen Finanzminister, der begreifen würde, dass seine Vorstellungen von unseren Finanzsystemen und von vermeintlichen Schuldenproblemen recht obskuren Geschichten der Mitte des letzten Jahrhunderts entstammen, dass heute aber die Empirie – die tatsächlichen Beobachtungen dazu, wie Geldsysteme und Finanzmärkte wirklich funktionieren – völlig andere Sachen weiß. Und er würde begreifen, dass er viel mehr Handlungsspielraum hat, als er meint zu haben. Was politisch möglich ist, wenn man ernsthaft und schnell auf bedrohliche Entwicklungen reagiert, haben wir alle gesehen – in der Corona-Pandemie. Da waren plötzlich Dinge möglich, die noch drei Wochen zuvor völlig undenkbar geschienen hatten. Aber der Mut zur Wahrheit ist eben leider ungleich verteilt. Und das ist vielleicht unser Hauptproblem.


Deswegen ist es so wichtig, dass Ihr ihn Euch nicht nehmen lasst. Denn Euer Mut zur Wahrheit ist der Motor für alles. Und wenn ich sage alles, dann meine ich: ALLES. Denn es geht uns ja nicht allein um Windrad, Solarzelle, Fernwärme, Fahrrad und Wärmepumpe. Wenn wir mit Windrad, Solarzelle, Fernwärme, Fahrrad und Wärmepumpe eine Wirtschaft betreiben, die jede Blumenwiese mit dem nächsten Amazon-Versandlager zupflastert, was hätten wir dann gewonnen? Wenn wir mit Windrad, Solarzelle, Fernwärme, Fahrrad und Wärmepumpe an einer Gesellschaft stricken, die die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander gehen lässt, was hätten wir dann gewonnen? Und wenn wir mit Windrad, Solarzelle, Fernwärme, Fahrrad und Wärmepumpe immer weiter an einer Welt bauen, in der Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Vorlieben diskriminiert werden, was hätten wir dann gewonnen?


Um das zu unterstreichen, will ich noch kurz erzählen, warum das German Zero-Logo so aussieht, wie es aussieht – und in der Folge auch viele Eurer Local Zero-Logos, die darauf basieren. Der Mensch, der das German Zero-Logo entworfen hat, ist ein Freund von mir, der Designer Nico Roicke in Berlin, ein supernetter Typ. Er hat mir mal erklärt, dass dieses Logo etwas ganz besonderes hat, was es fast nirgends sonst auf der Welt in Logos gibt – nämlich einen Pfeil, der nach unten zeigt. Denkt mal an das Deutsche-Bank-Logo. Ein Kasten, in dem eine Linie nach rechts oben weist: Gewinn, Gewinn, Rendite, Aktienkurse. Oder denkt an das Nike-Logo: schwungvoll nach rechts oben. Es geht in Logos immer von links unten nach rechts oben, denn wir lesen von links nach rechts, es muss immer aufwärts gehen: mehr, mehr, mehr – Kapitalismus. Das German Zero-Logo zeigt nach unten. Wenn Ihr also auf das Logo guckt, erinnert Euch daran: Das, was wir hier gemeinsam machen, ist nicht allein Klimaschutz. Es ist eine Ansage zur echten Richtungsänderung.


Das bringt mich zurück zu Mission Impossible und James Bond. Im 21. Jahrhundert brauchen wir keine Geschichten von bis an die Zähne bewaffneten Einzelkämpfern, die verbissen irgendeine Ideologie verteidigen. Wir brauchen mutige und kluge Menschen, die sich zusammentun und gemeinsam beharrlich Barrieren und Hindernisse aus dem Weg räumen, damit sich unsere Welt in die richtige Richtung dreht. Mit anderen Worten, wir brauchen HeldInnen wie Euch. Danke, dass es Euch gibt, danke, dass Ihr hier seid. Oder, um die Kollegen aus Nürnberg zu zitieren: Tanzt weiter auf allen Baustellen.


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